Im Gerichtssaal von Santa Maria Capua di Vetere wird der Mord an   sechs Afrikanern verhandelt, die im September 2008 in Castel Volturno   von einem mit Maschinenpistolen bewaffneten Killerkommando ermordet   wurden. Angeklagt sind sechs Angehörige des Clans der Casalesi – jenes   Camorra-Clans aus Casal di Principe, den Roberto Saviano in seinem Buch Gomorrah beschrieb. Rosaria Capacchione war eine   der Ersten am Tatort. Mit dem Massaker an den Afrikanern wollten die   Casalesi ein weiteres Mal beweisen, wer die Kontrolle über diesen   Landstrich unweit von Neapel hat, wo die Berge von Steinbrüchen   aufgefressen werden und ein Höllenpfuhl entstanden ist voller   Einkaufszentren, Parkplätze und nigerianischer Prostituierter, die   zwischen umherwehenden Plastikfetzen, Metallgerümpel und Glassplittern   auf Freier warten.
                              Seit zwanzig Jahren arbeitet Rosaria Capacchione als   Gerichtsreporterin für die neapolitanische Tageszeitung Il   Mattino in der Redaktion von Caserta. Sie weiß, wo die   Casalesi ihr Geld waschen. Und dass sie mit Vorliebe Socken von Brioni   tragen, im Farbton Londoner Grau. Sie weiß, welcher Clan mit wem   Allianzen schmiedet, welcher Camorrista mit welchem Politiker befreundet   ist und wie Müll zu Gold wird. L’Oro della Camorra heißt auch ihr 2008 erschienenes Buch, in dem sie die Verbrechen der   Casalesi akribisch mit Fußnoten belegt.
                              Als Rosaria am Ende der Verhandlung in der Bar des Gerichts ein   vertrauliches Gespräch mit einem Mafiaanwalt führt, spricht sie mit ihm   wie mit einem schlecht erzogenen Kind. Dicht neben Rosaria steht eine   Frau, die an ihr klebt wie eine etwas neugierige Freundin. Sie trägt ein   Piercing an der Unterlippe und weicht selbst dann nicht von ihrer   Seite, als der Anwalt der Reporterin vertraulich etwas ins Ohr zu raunen   versucht.
                              Vor eineinhalb Jahren kündigten die Camorristi an, die Journalistin   für ihre Enthüllungen bezahlen zu lassen, seitdem wird sie bei jedem   Schritt von zwei Polizisten begleitet. Heute sind es ein grauhaariger,   durchtrainierter Mann – und die Frau mit dem Piercing. Wenn Rosaria in   der Redaktion arbeitet, warten ihre Leibwächter unten auf der Straße.   Vor Mitternacht verlässt Rosaria selten die Redaktion; heute will sie   noch zwei Artikel über die Angehörigen der Opfer schreiben.
                              Ihr Büro ist mönchisch kahl, vom Schreibtisch blickt sie auf einen   Aktenschrank. Daran hängt ein Blatt mit »Nützlichen Anweisungen für   Journalistenkollegen, die auf eine Unterredung mit Rosaria Capacchione   warten«. »Die C. schläft lange und läuft erst am Nachmittag auf   Hochtouren«, heißt einer der Ratschläge. Oder: »Die C. darf nicht im   Profil fotografiert werden.« Oder: »Die C. mag es nicht, wenn man ihr   widerspricht.« Als Rosaria Capacchione bedroht wurde und Leibwächter   bekam, wurde sie selbst zum Gegenstand der Berichterstattung. Jedes Mal,   wenn das berühmte TV-Politikmagazin Annozero auf   Rai Due von den Machenschaften der Casalesi berichtet, wird Rosaria   Capacchione interviewt, kettenrauchend an ihrem Schreibtisch in der   Redaktion sitzend.
                              Sie habe eine laizistische Einstellung zu ihrem Beruf, sagt Rosaria   kühl. Sie führe keinen Krieg gegen die Mafia, sondern schreibe nur auf,   was sie wisse. Und das ist, nach zwanzig Jahren, nicht wenig. Oft weiß   sie mehr als die Staatsanwälte, von denen viele hier nur so lange   arbeiten, bis es ihnen gelingt, sich wieder versetzen lassen. »Man sagt   von mir, dass ich böse sei«, sagt Rosaria. »Aber  ich mache nichts   anderes, als zu informieren. Dinge zusammenzufügen.« Und genau das   fürchtet  die Camorra. 
                              Rosaria lebt allein, hat keine Kinder – aber fünf Geschwister, die   samt Schwagern und Schwägerinnen, Nichten und Neffen über sie wachen wie   eine Löwenfamilie. Niemand habe je zu ihr gesagt: Hör auf damit! Weder   ihre Geschwister noch ihre Freunde. Auch keiner ihrer Kollegen. »Weil   ich sie sonst von der Liste gestrichen hätte«, sagt Rosaria.
                              Unlängst hat man bei ihr eingebrochen. Gestohlen wurde nichts – außer   einem Preis, den sie für ihre Antimafia-Berichterstattung erhalten hat.   Der Einbruch ist eine Botschaft: Wir könnten, wenn wir nur wollten. In   der Eigentümerversammlung sorgte sich ein Hausbewohner über eine etwaige   Wertminderung der Wohnungen wegen der von der Mafia bedrohten   Nachbarin.
                              »Ein von der Mafia bedrohter Journalist ist vor allem eines: allein.«   Sagt Alberto Spampinato, Gründer des Nationalen Observatoriums für   verheimlichte Nachrichten und bedrohte Journalisten. Spampinato ist   Redakteur der Nachrichtenagentur Ansa – und ein Bruder des 1972 von der   Mafia ermordeten Journalisten Giovanni Spampinato. In den letzten 30   Jahren ermordete die Mafia in Italien 13 Journalisten.
                              Die Ersten, die einem von der Mafia bedrohten Reporter in den Rücken   fielen, seien dessen Kollegen, sagt Alberto Spampinato. Stets sei jemand   zur Stelle, der beweisen möchte, dass der Journalist fehlerhaft über   die Mafia schreibe. Immer rede einer die Folgen der Bedrohung klein und   rechne sie auf gegen den Vorteil, bekannt zu werden. »Unvorsichtig« sei   der Kollege gewesen, nur aus Eitelkeit habe er jenen stillschweigenden   Pakt verletzt, der darin bestehe, bestimmte Nachrichten zu unterdrücken.   Vor allem in Süditalien sind immer noch unzählige Zeitungen bereit,   sich als Sprachrohr der Bosse zu betätigen.
                              »Jeder, der über die Mafia schreibt, tut das auf eigene Gefahr«, sagt   Alberto Spampinato. In den letzten drei Jahren wurden mehr als   zweihundert Journalisten in Italien von der Mafia bedroht – nicht nur   mit Brandsätzen und unverhüllten Morddrohungen, sondern auch ganz legal:   mit Verleumdungsklagen und astronomischen Schadensersatzforderungen,   die Journalisten einschüchtern sollen. Oder wie es der   Politikwissenschaftler Claudio Riolo nennt: »Einen treffen, um Hunderte   zu erziehen.«
                              Riolo blickt auf eine kafkaeske, 15 Jahre währende Prozessgeschichte   zurück. 1994 schrieb er für eine Antimafia-Zeitschrift einen Artikel   über den Strafverteidiger Francesco Musotto, damals Präsident der   Provinz Palermo. Der hatte es fertiggebracht, im Prozess gegen die   Attentäter von Staatsanwalt Giovanni Falcone gleichzeitig als Opfer und   als Verteidiger aufzutreten: Einerseits vertrat Musotto die Provinz   Palermo als Geschädigte, andererseits verteidigte er einen der   angeklagten Mafiabosse. Der eigentümliche Fall von Anwalt   Musotto und Mister Hyde hieß Riolos Artikel. Fünf Monate nach   dessen Erscheinen strengte Musotto eine Verleumdungsklage an und   forderte 350.000 Euro Entschädigung. Sechs Jahre dauerte der Prozess in   der ersten Instanz – am Ende wurde der Politikwissenschaftler Riolo   schuldig gesprochen und zu einer Zahlung von 70.000 Euro verurteilt.   Anders als bei Strafprozessen ist das Urteil eines Zivilprozesses sofort   gültig: Das Gericht verfügte, ein Fünftel des Gehalts des   Politikwissenschaftlers zu pfänden – eine Pfändung, die auch für seine   in einigen Jahren einsetzende Pension gilt.
                              In den beiden folgenden Instanzen wurde das Urteil bestätigt; am Ende   des zwölf Jahre dauernden Verfahrens wurde Riolo auch vom   Kassationsgericht für schuldig befunden. Doch dann geschah, was in   Italien noch nie geschehen war: Riolo legte beim Europäischen   Gerichtshof für Menschenrechte Berufung ein – und gewann. Im Prozess   »Riolo gegen Italien« wurde der Staat für schuldig befunden, die   Meinungsfreiheit nicht geschützt zu haben. Der Artikel über den   Mafiaanwalt sei keine Verleumdung gewesen, sondern eine mit Fakten   belegte, für demokratische Staaten zulässige Meinungsäußerung. Im   Oktober vergangenen Jahres wurde Italien zur Zahlung einer Entschädigung   von 72.000 Euro verurteilt. Da das europäische Urteil das italienische   nicht außer Kraft setzt, sondern nur ergänzt, trägt nun der italienische   Staat die Kosten für die vermeintliche Verleumdung des Mafiaanwalts.   Ironie der Justiz. Eines aber haben selbst italienische   Mafiajournalisten noch nicht gesehen: geschwärzte Seiten in einem   Mafiabuch. Deshalb berichteten die italienischen Medien auch ausgiebig   darüber, dass mein Buch Mafia. Von Paten, Pizzerien und   falschen Priestern in Deutschland nur zensiert erscheinen   darf. Dem Erfurter Gastronomen Spartaco Pitanti und dem Duisburger   Hotelier Antonio Pelle ist es mit einer einstweiligen Verfügung   gelungen, die sie betreffenden Passagen schwärzen zu lassen. 
                              »Die Autorin nennt Namen, die bestens bekannt sind, da sie nicht nur   in den Ermittlungsunterlagen sowohl der deutschen als auch der   italienischen Polizei auftauchen, sondern auch in Justizakten und in   zahlreichen journalistischen Berichten. Wenn wir von verdächtigen   Personen nicht mehr sprechen dürfen, soll das Volk das Problem wohl   weiterhin ignorieren, soll das Gemetzel von Duisburg als Zwischenfall   der Geschichte durchgehen, von dem man sich schnell erholt, um sich   wieder oberflächlichem Gerede und unwesentlichen Problemen zu widmen.   Hoffen wir, dass es kein bitteres Erwachen gibt.« Das schrieb der   nationale Antimafia-Staatsanwalt Vincenzo Macrì in dem Vorwort zu meinem   Buch. Es ist inzwischen auch in Italien erschienen, unter dem Titel Santa Mafia, »Heilige Mafia«. Einer der ersten Leser   war Marcello Dell’Utri, der als »Gehilfe der Mafia« in erster Instanz zu   neun Jahren Haft verurteilte Senator, Gründer von Forza Italia und   rechte Hand des italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi. Umgehend   kündigte er eine Klage gegen mein Buch an.
                              Kurz nachdem mein Buch in Deutschland geschwärzt wurde,   veröffentlichte Jürgen Roth sein Buch Mafialand Deutschland . Kaum erschienen, wurde auch in seinem Fall einer einstweiligen   Verfügung stattgegeben: Der in Leipzig tätige Kellner Pasquale Serio   setzte vor dem Landgericht Leipzig die Schwärzung der ihn betreffenden   Passagen durch. Und im November dieses Jahres versuchte Domenico Giorgi,   ein in Erfurt tätiger Gastronom und Geschäftsfreund meines Klägers   Spartaco Pitanti, ebenfalls eine Unterlassungserklärung gegen Roths Buch   zu erreichen. Allerdings vergeblich. Das Leipziger Gericht wies das   Ansinnen ab.
                              Das hielt Giorgis Anwalt nicht davon ab, bundesweit Abmahnungen an   alle Buchhandlungen zu schicken und juristische Konsequenzen anzudrohen,   falls sie Roths Buch verkaufen würden. Zeitgleich verklagten die beiden   Erfurter Gastronomen Pitanti und Giorgi einen Journalisten des   italienischen Wochenmagazins L’espresso, der im   März 2009 einen Artikel über die Mafia in Deutschland veröffentlicht   hatte. Für die »Verleumdung in besonders schwerer Form« forderte der   Anwalt die stattliche Entschädigungssumme von 518.000 Euro. Einen   treffen und Hunderte erziehen: Der Verleger wird sich fragen, ob er ein   Mafiabuch überhaupt verlegen soll. Der Journalist wird sich fragen, ob   er bei seinem nächsten Artikel wirklich Namen nennt. Chi me lo   fa fare? Wie komme ich dazu? Denn: Wie soll ich meine   Anwaltskosten bezahlen?
                              Francesco Saverio Alessio hat ein Buch geschrieben, das die   Verbindungen zwischen der kalabrischen ’Ndrangheta, der kampanischen   Camorra und den Freimaurern aufdeckt. Seitdem wird er bedroht, verklagt,   beleidigt, eingeschüchtert. Bei einer Antimafia-Veranstaltung schrie er   seine Wut heraus: »Und wenn ihr mich umbringt, ihr erbärmlichen   Scheißkerle, verkauft sich unser Buch drei Millionen Mal!«
                              
                              Andere Journalisten retten sich in Ironie. Giacomo di Girolamo ist   Chefredakteur des Lokalradios RMC 101 in Marsala, wo Sizilien ganz nah   an Afrika rückt, das Licht gleißend ist und die Häuser ockerfarbene   Würfel sind. Und wo alle zwei Wochen eine Bar, eine Werkstatt, ein   Geschäft angezündet wird, weil der Besitzer nicht genügend Schutzgeld   bezahlt hat. Giacomo wagt es, darüber zu berichten – und sein Auto wurde   zerkratzt, bespuckt und aufgebrochen. Seitdem fährt er Rad – drei   Fahrräder wurden ihm schon geklaut. Eines Abends tauchte jemand vor   Giacomo auf, der ihm etwas zunuschelte. »Es war dunkel und regnete«,   erzählt der Journalist, »und ich habe nur verstanden, dass ich auf ihn   hören sollte. Aber nicht, warum.«
                              Ein anderes Mal wurde ein Fotograf gleichen Namens am Telefon   bedroht, ein Versehen. Zuletzt wurde die Kanzlei in der Etage über dem   Radiostudio in Brand gesteckt – offenbar hatten sich die Brandstifter in   der Etage geirrt. »Wenn ich mir das ansehe, sieht es schlecht aus für   die Mafia«, sagt Giacomo di Girolamo. »Drei Drohungen, und keine davon   haben sie richtig hingekriegt.«
                              Er legt den Matteo, wo bist du? -Jingle ein und   kündigt so jedes Mal die neuesten Nachrichten über jenen Mafiaboss   Matteo Messina Denaro an, der die Gegend um Marsala beherrscht und seit   16 Jahren flüchtig ist. An diesem Tag ist ein dem Boss nahestehender   Clan verhaftet worden, der im Wesentlichen aus drei Achtzigjährigen und   zwei Frauen bestand. In der Lokalzeitung wird der Polizeichef von allen   Honoratioren der Stadt zur Festnahme beglückwünscht. »Komisch   eigentlich«, sagt Girolamo, »an Tagen wie diesem kommt man sich vor wie   auf einer Hochzeit, wenn sich niemand vorwerfen lassen will, kein   Glückwunschtelegramm geschickt zu haben.« Dann kündigt er ein Interview   mit einem Stadtrat an, der gleichzeitig Regionalassistent für Legalität   und Anwalt eines Mafioso ist. 
                              »Ich kann hier nichts verändern«, sagt Girolamo. »Aber ich muss es   erzählen. Damit niemand sagen kann, er hätte nichts gewusst.«
                               Petra Reski
                              http://www.zeit.de/2010/05/Mafia-Journalisten?page=all
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                               www.zeit.de/audio
                              
                                
                                
                              
                              Die Mörder, die Mafiosi, die Politiker, die Freimaurer haben Angst vor unseren Worten, Italien, Mafia
                              Francesco Saverio Alessio
                              Karriere-Preisträger  der sechsten Verleihung des italienischen Philosophiepreises 2012 in Certaldo (Florenz)
                               
                              Gegen die ’Ndrangheta. Ein Interview zwischen Deutschland und Italien
                               
                              DEMONI E SANGUE
                              'ndrangheta un potere glocale e invisibile
                              
                              Gegen 
                                
                                die ?Ndrangheta. Ein Interview zwischen Deutschland und Italien.
                                Francesco Saverio Alessio ist ein kalabrischer Schriftsteller. Er hatte den Mut, die Stimme 
                                
                                gegen die ?Ndrangheta zu heben, sein Land zu verteidigen. Er wagte zu hoffen. Es war eine Lebensentscheidung, fr die er heute noch einen hohen Preis zahlt. 
                                
                                Und doch gibt er nicht auf.